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Lösung auf Basis von KNX

Active Assisted Living: Ein Beispiel aus der Praxis

Bild 1: Ein einziger Klick muss einen kompletten Ablauf auslösen, da der Benutzer z. B. nicht mehrmals kurz hintereinander klicken kann
Bild 1: Ein einziger Klick muss einen kompletten Ablauf auslösen, da der Benutzer z. B. nicht mehrmals kurz hintereinander klicken kann
(Bild: Kaiser)

Mit folgendem Praxisfall sah sich der Autor dieses Beitrags konfrontiert: Ein im Berufsleben stehender, sportlicher 60-Jähriger fährt regelmäßig mit seinem Fahrrad. Im Kreuzungsbereich übersieht ihn ein Autofahrer und es kommt zum Unfall. Im Klinikum dann die erschütternde Diagnose: Querschnittslähmung im besonders schweren Fall: Nur noch die Bewegung des Kopfes ist eigenständig möglich.

Nach einem Aufenthalt im Klinikum erfolgt die Rehabilitation. Bereits in diesen Phasen lernt der Betroffene Hilfsmittel kennen, die ihm die Bedienung alltäglicher Dinge ermöglichten, zum Beispiel eine Saug-Blas-Steuerung.

Das »Positive« an diesem Fall ist, dass es einen Verursacher und dessen Versicherung gibt. Der Betroffene hat deshalb das Recht, sein eigenes Wohngebäude technisch so umrüsten zu lassen, dass er wieder einigermaßen selbstbestimmt leben kann.

Gebäude barrierefrei umgerüstet

Das gesamte Gebäude wird architektonisch barrierefrei umgerüstet, erhält elektrische Türen, Badelifter und ähnliches. Aufgabe des Elektroinstallateurs ist es, möglichst viel der im Haus vorhandenen Technik, aber auch weitere Komponenten für den Querschnittsgelähmten wieder bedienbar zu machen. Die Elektroinstallation wird saniert und vollständig auf KNX umgerüstet. Die elektrischen Komponenten der anderen Gewerke (Türen, Fenster) werden angebunden, neue Geräte im Bereich der Medienwelt (Beschallung, TV, …) angeschafft.

Die technisch eigentlich große Herausforderung aber ist einerseits das Anbinden aller Geräte (zum Beispiel TV), andererseits das Schaffen von Oberflächen, die der Betroffene mit seinen eingeschränkten Möglichkeiten selbst steuern kann. Dazu kommt ein Mediensteuerungssystem zum Einsatz, das frei programmierbar ist und das KNX, aber auch alle anderen Komponenten verbinden kann. Die freie Programmierung ermöglicht beliebige Logiken und Abfolgen.

Wichtig bei einem solchen Fall ist, dafür Sorge zu tragen, dass mit einem einzigen Klick ein ganzer Ablauf ausgelöst wird (Bild 1). Der Betroffene kann zum Beispiel nicht nacheinander die Bewegung eines Fensters anstoßen und wieder stoppen. Diese im Normalfall völlig übliche Vorgehensweise kommt in diesem Fall nicht in Betracht, weil der Aufwand der Bedienung nicht zumutbar und die kurzen Zeitsequenzen nicht umsetzbar sind.

Fokus auf der Bedienoberfläche

Bild 2: Die Bedienung erfolgt über eine Kopf-Zieh-Stütze, an die eine Kinnsteuerung angebaut ist
Bild 2: Die Bedienung erfolgt über eine Kopf-Zieh-Stütze, an die eine Kinnsteuerung angebaut ist

(Bild: Motion Solutions GmbH)

Darüber hinaus muss eine Möglichkeit gefunden werden, die Technik dem Betroffenen so verfügbar zu machen, dass er mit seinen eingeschränkten Möglichkeiten darauf zugreifen kann. Es wird ebenfalls eine frei programmierbare Oberfläche gewählt, die über entsprechend große Buttons verfügt, versehen mit dem nötigen Kontrast. Diese werden auf ein iPhone gespielt, das am Rollstuhl befestigt wird. Die Bedienung erfolgt mit einem Kinn-Joystick (Bild 2).

Ein Kinn-Joystick ist ein am Rollstuhl angebrachtes Hilfsmittel, das ähnlich wie eine Maus funktioniert. Der Betroffene bewegt mit seinem Kinn den Joystick in verschiedene Richtungen und erreicht damit die von ihm gewünschten Buttons. Ebenfalls mit dem Kinn drückt er auf den Joystick und löst den Button aus: Ein für einen Nicht-Eingeschränkten völlig alltäglicher Vorgang wird so zu einem enormen Aufwand.

Die gesamte Konstellation der Bedienoberfläche muss sorgsam geprüft und umgesetzt werden. Der Betroffene kann zum Beispiel nicht wie andere in dieser Altersklasse einfach einmal eine Lesebrille aufsetzen oder abnehmen. Die Anzahl und Größe der Buttons, deren Farbe und Kontrast, die Anzahl der Seiten und viele weitere Aspekte müssen unter Berücksichtigung aktueller wissenschaftlicher Erkenntnisse so gestaltet werden, dass sie in jeder Phase des Alltags (zum Beispiel zu unterschiedlichen Tageszeiten, Gesundheitszuständen und ähnlichem) jederzeit mit möglichst wenig Anstrengung genutzt werden können (Bild 3).

Bild 3: Die Bedienoberfläche mit großen, kon­trastreichen Buttons wurde eigens an den Kunden angepasst
Bild 3: Die Bedienoberfläche mit großen, kon­trastreichen Buttons wurde eigens an den Kunden angepasst

(Bild: Kaiser)

Die meisten Komponenten der Haustechnik selbst lassen sich über KNX anbinden. Besondere Herausforderungen stellen die Mediengeräte und die Produkte einzelner Hersteller dar, die sich bis heute der vernetzten Welt nicht öffnen. Das TV-Gerät zum Beispiel kann auf Netzwerkbasis gesteuert werden, die Außentür nur mit der Kopplung von Tastereingängen.

Eine besondere Herausforderung stellt dar, dass (wie so oft) die Bauteile aus dem elektronischen Umfeld schon bestellt oder eingebaut waren, als der Elektrotechniker zu dem Projekt hinzukommt. Man muss also mit den verbauten Komponenten »leben«, anstelle noch Einfluss auf deren Auswahl nehmen zu können.

Ein großes Ziel dieser Maßnahme ist, eine gelungene Synergie zwischen einem selbstbestimmten Leben für den Betroffenen einerseits, aber auch eine Reduktion der Belastung für die Pflegekräfte andererseits zu erreichen. Nicht zu jeder Tageszeit muss nun eine Pflegekraft selbst Kleinigkeiten erledigen. Vieles kann der Betroffene wieder selbst. Letzteres ist gerade im Sinne der Definition, nach der man heute benachteiligte Menschen unterstützen will.

Der Begriff AAL – was bedeutet er?

»Active Assisted Living« ist ein Kunstbegriff, den kaum jemand kennt. Noch dazu wurde er vor wenigen Jahren geändert, bis dahin lautete er »Ambient Assisted Living«. Auch Nachlagewerke wie Wikipedia vereinfachen diese Frage nicht mit ihrer Definition: »Ambient Assisted Living (AAL, gelegentlich auch Active Assisted Living) umfasst Methoden, Konzepte, (elektronische) Systeme, Produkte sowie Dienstleistungen, welche das alltägliche Leben älterer und auch behinderter Menschen situationsabhängig und unaufdringlich unterstützen.«

Im deutschen Sprachgebrauch lässt sich der Begriff am besten mit »Alltagsunterstützende Assistenzlösungen für ein selbstbestimmtes Leben« übersetzen. Die verwendeten Techniken und Technologien sind nutzer­zentriert, also auf den Menschen ausgerichtet und integrieren sich in dessen direktes Lebensumfeld. Die Technik passt sich folgerichtig an die Bedürfnisse des Nutzers an und nicht umgekehrt. Um Kontextinformationen zu teilen, können Technologien im AAL-Umfeld sinnvollerweise modular und vernetzbar aufgebaut sein, um ein pseudointelligentes Verhalten aufzuweisen. Diese Eigenschaft ist jedoch nicht zwingend erforderlich.

Die technische Entwicklung seit dem Anfang der Neunzigerjahre, gerade im Bereich der Elektrotechnik, bietet ungeahnte Möglichkeiten, Menschen, gerade mit körperlichen Einschränkungen, zu Komfort und Lebensqualität zu verhelfen. Dies kann im einfachen Fall eine bewegungsabhängige Beleuchtung oder auch eine Steuerung der Farbtemperatur je nach Tageszeit sein, verbunden mit komplexeren Anforderungen aber auch die Technik für ein ganzes Seniorenzentrum oder Pflegeheim – oder wie oben beschrieben das private Wohnumfeld eines Querschnittsgelähmten. Auch der Hausnotruf fällt in den Bereich von AAL.

All das definiert die internationale Normung über den Kunstbegriff »AAL«. Es wäre dringend nötig, dass die DKE und die Verbände viel mehr Öffentlichkeitsarbeit leisten, um die Möglichkeiten überhaupt an die Betroffenen, die Entscheider, Architekten, Investoren und andere heranzutragen. Nur damit kann der Betroffenengruppe einerseits möglichst viel dieser beeindruckenden Technologie zugutekommen, andererseits ergibt sich aber ein immenses Aufgabenpotenzial für das Elektrohandwerk. Vor allem ein sehr wertiges.

Die Marge im lohnintensiven Elektrohandwerk ist bei aufwendigen Komponenten viel höher als beim »Kabelziehen«. Vertreter unseres Handwerks können hier ihr Wissen und ihre Ausbildung ausspielen. Und sie sollten das tun. Der Pflegesektor ist neben BIM einer der Zukunftsaufgaben, den auch andere entdecken. Amazon und Alexa waren erst der Anfang. Andere Player in Deutschland sehen sich bereits als »Systemintegrator« jenseits des Handwerks.

Nicht einfach ist im Übrigen auch die Abgrenzung von AAL zur Medizintechnik. Wearables und ähnliches fallen möglicherweise in beide Felder und verursachen damit umso mehr Fragen nach Ethik und Datenschutz.

Buchtipp

Active Assisted Living
von Peter Kaiser,
1. Auflage 2023, 176 Seiten,
Softcover, 36,80 €,
ISBN 978-3-8101-0541-7

Active Assustant Living

Der Begriff Active Assisted Living (AAL) umfasst Methoden, Konzepte, (elektronische) Systeme, Produkte sowie Dienstleistungen, welche den Alltag älterer Menschen und von Menschen mit Behinderungen situationsabhängig und unaufdringlich unterstützen und erleichtern. Architekten, Planer und Handwerker stehen dabei vor dem Problem, die komplexe Vielfalt der Anbieter zu überschauen.

Dieses Buch stellt die Normen und Technologien übersichtlich dar und zeigt die Chancen aller beteiligten Parteien auf. Anhand von Praxisbeispielen werden die unterschiedlichen Anforderungen, Produkte, Technologien und Systemkomponenten beim Haus-/Wohnungsbau, beim Betreuten Wohnen/der ambulanten Pflege, bei der Anpassung von Mietwohnungen und bei einer zeitweisen körperlichen Eingeschränktheit zu Hause behandelt.

www.elektro.net/shop

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Über den Autor
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Peter Kaiser

Geschäftsführer der Kaiser-Amm TGA-Planung 4.0 und öffentlich bestellter und vereidigter Sachverständiger. Er verantwortet im ZVEH die Bereiche AAL und BIM. Für BIM ist er Mitglied in den entsprechenden Normengremien des DIN und Vorsitzender des Standardisierungskomitees DKE/AK STD_1000.9.1 »Elektrotechnische Aspekte in BIM« beim VDE/DKE

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